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Irmtraud Morgner: Amanda - Copyright: Faber & Faber, LeipzigTräume, Hexen und Gelächter
Widerstand der Phantasie in Irmtraud Morgners Romanen

Über Irmtraud Morgners verzauberte Frauen als Aufruf zur Hoffnung um jeden Preis

Von Benedikt Descourvi�res


Die j�ngst durch das posthum herausgegebene Romanfragment "Das heroische Testament" wieder etwas in das Augenmerk von Fachwissenschaft und Feuilleton ger�ckte DDR-Schriftstellerin Irmtraud Morgner hinterl�sst ein gleicherma�en monstr�ses wie �sthetisch virtuoses Gesamtwerk. Gleichwohl bleibt es von einem gro�en Teil des Lesepublikums, und nicht nur des weiblichen, noch zu entdecken.
Geboren 1933 in Chemnitz lebte sie nach ihrem Studium der Literaturwissenschaft seit 1958 als freie Schriftstellerin in Ost-Berlin, wo sie 1990 �berraschend fr�h starb. Nach einer fr�hen Phase eher traditionellen realistischen Schreibens deutete sie mit dem Roman "Hochzeit in Konstantinopel" (1968) erstmals die Wendung zu einem st�rker produktiven Schreibkonzept an, das auf die Aktivierung der Kr�fte der Imagination abzielt. Mit ihrem Hauptwerk "Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz" gelang ihr der schriftstellerische Durchbruch in Ost wie in West (1974/76).

"Die Philosophen haben bisher die Welt nur m�nnlich interpretiert"
Die einfallsreichen und filigranen Erz�hl- und Kompositionstechniken der Autorin entf�hren Leserinnen und Leser in poetisch-phantastische Traumwelten, die sich jedoch nie zweckfrei darstellen. Immer spiegeln sie die Sehnsucht nach einer gerechten, gewaltfreien Welt wider, in der pers�nliche Sehns�chte nicht nur Tr�ume bleiben. Das zentrale Bild f�r den Widerspruch zwischen individuellem Gl�cksverlangen und bestehenden gesellschaftlichen Verh�ltnissen ist das der halbierten Frau, die in einer Spannung zwischen domestizierter Existenz b�rgerlicher Erwerbst�tigkeit und "hexischer Anarchie" hin- und hergerissen ist. Es sind die Frauen, die nach Morgner den Widerspruch zwischen der tyrannischen Pr�senz der Arbeitswelt und menschlicher Entfaltung repr�sentieren, indem sie ihn als weibliche Romanfiguren erfahren und erkennen. Mit diesem Erkennen kommt den Frauen in den Texten Morgners eine rettende und ver�ndernde Funktion zu. In Anlehnung an den Abschluss der Marxschen Feuerbachthesen formuliert Morgner das weitergehende Ziel: "Die Philosophen haben die Welt bisher nur m�nnlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie auch weiblich zu interpretieren, um sie menschlich ver�ndern zu k�nnen."

Es verwundert nicht, dass die Werke Morgners zu einem "feministischen Leckerbissen" avancierten; dennoch er�ffnen sie �ber die feministische Lesart eines Schreibens gegen m�nnliche Machtstrukturen hinaus eine sozio-semiotische Lesart: Die �sthetische Grundstruktur der Texte Morgners verweist auf den grunds�tzlichen Widerspruch zwischen der zweckrationalen, ausbeuterischen Arbeitswelt und individuellen Tr�umen und Sehns�chten. An das �sthetische Zeichen "Frau" sind Strukturmerkmale wie Erkenntnis, Widerstand und Hoffnung gebunden. Morgner verkn�pft die Momente des weiblichen Leidens und Sehens zu dem literarischen Bedeutungseffekt eines "hexischen Widerstands". Dies ist selbstredend in der empirischen Welt f�r alle progressiven Kr�fte relevant und l�sst sich kaum auf ein R�sonnenment �ber den Geschlechter-Dualismus reduzieren. Als geradezu prophetische Utopie formuliert Morgner in ertr�umt ihre Romanheldin Torbadora Beatriz die Vorstellung einer allumfassenden Harmonie:

"Die streikende Menge applaudierte ihrer Rede, die nach der endg�ltigen Revolution und den K�pfen gewisser Fossilien verlangte, die totale Harmonie wurde proklamiert. Beatriz sah sich gefeiert von den Frauen, in deren Zungen sie r�hmte, von den ger�hmten M�nnern, von allen weiblichen und m�nnlichen Trobadoren." (S. 64)

Der Widerspruch zwischen menschlicher Sehnsucht und gesellschaftlichem Status quo zeigt sich ironisch durch den Trance-Zustand, in dem die Titelheldin ihren Traum von der Harmonie erlebt.

"Austritt aus der Geschichte der M�nner"
Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz - Copyright: dtv, MünchenIhre Heldinnen sind Geschichten-Erz�hlerinnen mit einem mythischen Hintergrund und Kontext, die empirische Momente und Imagination permanent kunstvoll miteinander verflechten. In "Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz" tritt mit der Figur der historisch verb�rgten provencalischen Minnes�ngerin Beatriz de Dia aus dem 12./13. Jahrhundert weibliche Geschichte - das hei�t auch Geschichte von unten - "pers�nlich auf": Die Minnes�ngerin "verlie� die mittelalterliche Welt der M�nner" mittels eines Zauberschlafes und erwacht circa 800 Jahre sp�ter im Mai 1968, um dann endlich 'in die Geschichte eintreten zu k�nnen'. Erste niederschmetternde Erfahrungen - Vergewaltigung, Auspl�nderung, Umweltzerst�rung, Prostitution und Dem�tigungen aller Art - lassen sie fast resignieren und eine Einladung in die DDR als letzten Ausweg annehmen. Wie Heiner M�ller empfand auch Irmtraud Morgner die DDR zwar nicht als das gelobte Land, aber doch als den Ort, der mehr soziale und menschliche Entwicklung f�rderte als der von Profitgier dominierte Westen. Sah M�ller in der BRD "eine durch zwei Weltkriege gesundgeschrumpfte Firma, gegr�ndet auf de[m] Boden der Tatsachen, der der Sumpfboden der deutschen Geschichte ist, die Identit�t seiner Bev�lkerung der Kurs der D-Mark" und w�hnte er sich froh, dass "Rosa Luxemburg, J�din aus Polen, Revolution�r in Deutschland, auf dieser Seite [der Seite der DDR] begraben liegt", so l�sst Morgner die Trobadora ironischerweise die "Ansiedlung im Paradies" als Grund f�r die Einreise in die DDR angeben. Eine Antwort, die beim Grenzbeamten Misstrauen erweckt: "[D]ie Deutsche Demokratische Republik w�re kein Paradies, sondern ein sozialistischer Staat. 'Gott sei Dank', sagte Beatriz." (S. 138)

"Wunder ja, aber keine privaten f�r Dr�ckeberger"
In ihrer neuen Heimat steht sie engem Kontakt zu Laura, Germanistin und Bauwagenf�hrerin, und erkennt langsam die Notwendigkeit, in m�hsamer Kleinarbeit die bestehenden Verh�ltnisse zu ver�ndern. Laura akzeptiert keine sozialromantischen Tr�umereien:

"Die Gegebenheiten akzeptieren m�sste ja nicht hei�en, sie samt und sonders bejahen. Jedenfalls verlange der Vorgang Leben Stolz, Realpolitik, Improvisationstalent. Und best�nde in der F�higkeit, sich durchzubei�en. Wunder ja, aber keine privaten f�r Dr�ckeberger." (S. 172)

Irmtraud Morgner: Hochzeit in Konstantinopel - Copyright: dtv, MünchenEs reicht nach Laura nicht aus, auf politische und soziale Entwicklung zu hoffen, man muss sie permanent in der jeweils gegebenen historischen Situation erarbeiten. Obwohl auch die Arbeitswelt der DDR einige W�nsche offen l�sst, so erm�glicht sie den Freundinnen doch mehr Entfaltungsm�glichkeiten als die westeurop�ischen L�nder, die Beatriz im Rahmen einer Aventiure besucht hat. Der aus dreizehn B�chern bestehende Text vereinigt stolze 165 eher episodisch angelegte Einzelkapitel und sieben Zwischenkapitel, die Intermezzi, zu einem monumental anmutenden operativen Montageroman, in dem zahlreiche historische und fiktive Figuren auftreten, welche die lineare Handlung aufbrechen und ironisch perspektivieren. Analog zur ver�stelten Handlungsstruktur montiert Morgner verschiedenste Textsorten: Legenden, Erz�hlungen, Interviews, Satiren, Lieder, Gedichte, Reden, wissenschaftliche und politische Texte wechseln sich ab und generieren ein geistreiches Spiel mit fabulierter und fabulierender Phantastie.

F�r ihren poetischen "Aufstand der Phantasie" bindet die Autorin immer wieder die spielerische Surrealit�t an empirische Momente zur�ck. Insbesondere in den Intermezzi greift der Romantext zentrale Aspekte des Alltagslebens in der DDR auf. Sie entwickelt ihr Schreibkonzept von der realistischen Repr�sentationskunst der 50er- und 60er Jahre hin zu einer fast mythischen Innerlichkeit; im Gegensatz zur Neuen Subjektivit�t, die sich ab der Mitte der 70er Jahre in Ost und West verst�rkt durchsetzte, vermeidet Morgner "das peinlich Beliebige, Abstandslose, das viele Subjektivisten-Erzeugnisse so schwer ertr�glich macht" (Heinz Puknus), indem sie ihre Figuren immer im Kontext einer konkreten gesellschaftlicher Existenz verortet.

"Der Zweck heiligt alle Zaubermittel"
Der "Eintritt der Frau in die Historie" und das m�rchenhafte Fabulieren als Fluchtpunkt vor der Arbeitswelt bleiben Morgners zentrale Themen. Ihr zweiter gro�er Roman "Amanda. Ein Hexenroman" (1983) ist zwar skeptischer gehalten, aber auch hier verweist die 'hexische' Fabulier- und Lebenslust auf das Dr�ngen nach Ver�nderung, selbst wenn in bestimmten historischen Phasen das hexisch-anarchisch-phantastische Lachen die einzige Waffe bleiben sollte; dabei gibt die Autorin dem subversiven Lachen den Vorzug vor dem tatenlosen sirenischen Warnpathos und der kassandrischen Klage:

"Hexisches Gel�chter, eine bestimmte Art ernsten Humors [...] erscheint mir in finsteren Zeiten hilfreich, um die L�hmung angesichts der �bergro�en Aufgabe, die Depression aus �berforderung, zu �berwinden. Riesige Autorit�ten, die wichtigste ist: der Tod, k�nnen nur mit einem weinenden und einem lachenden Auge angegangen werden. Tr�nen in beiden Augen machen blind, wehrlos, f�hren zur Selbstaufgabe, in den Selbstmord."

Irmtraud Morgner: Gauklerlegende - Copyright: dtv, MünchenMorgners Texte evozieren Traumwelten, ohne zu sentimentalen, wertfreien Tagtr�umen zu verkommen. Ihre verzaubernden m�rchenhaften Fabulierlawinen, die sich nicht im selbstgef�lligen Spiel mit den �sthetischen Zeichen verlieren, sondern die konkrete Erfahrungswirklichkeit immer wieder durch plastische Milieuzeichnungen darstellen, vermitteln die Hoffnung des einen lachenden Auges, das der Depression widersteht. In sp�teren Texten setzt Morgner angesichts von Wettr�stung, Armutsspirale und Sy-stemversteinerung in Ost und West der "Ersch�tterung der Hoffnung auf die Zukunft" die "Urkraft der Gef�hle" als "Kraft der Utopie in uns" entgegen. Morgners hochaktuelle Wahrheit der Hoffnung um jeden Preis verk�ndet sie in wort- und bildgewaltig inszenierten Texten, die mit dem Ende der DDR keineswegs 'erledigt' sind. Morgners poetische Zauberwelten im Dienst einer kritisch-sch�pferischen Begegnung mit Geschichte bleiben Programm: "Der gesellschaftliche Zweck heiligt alle poetischen und mythischen Zaubermittel."

Benedikt Descourvières

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten

Benedikt Descourvières, Jahrgang 1968, Dr. phil., ist u.a. Verfasser des Buches
"Utopie des Lesens. Eine Theorie kritischen Lesens auf der Grundlage der Ideologietheorie Louis Althussers. Dargestellt an Texten Georg B�chners, Theodor Fontanes, �d�n von Horv�ths und Heiner M�llers."
St. Augustin: Gardez! Verlag 1999. (= GiG. Germanistik im Gardez! Bd. 6.)

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Buchcover: Irmtraud Morgner:
1) Amanda. Ein Hexenroman. Mit einem Nachwort von Michael Faber. Leipzig: Verlag Faber & Faber 1995.
2) Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura. Roman in dreizehn Büchern und sieben Intermezzos. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) 1994.
3) Hochzeit in Konstantinopel. Roman. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) 1990.
4) Gauklerlegende. Eine Spielfraungeschichte. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) 1994.

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