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Rezensionen > Beigbeder, Frédéric: Windows on the World

Surfen auf den Feuerwolken
Fr�d�ric Beigbeders beklemmender Roman �ber den Elften September

Frédéric Beigbeder: Windows on the World. Roman
Aus dem Franz�sischen von Brigitte Gro�e
Berlin/München: Ullstein Verlag 2004
ISBN 3-550-08453-6
352 Seiten
EURO 22,00


"Es passiert selten, dass ein Schriftsteller Angst vor dem Buch hat, das er gerade schreibt." Fr�d�ric Beigbeder, der franz�sische Literaturprovokateur, hat Angst. Angst davor, das Unsagbare zu sagen, das Unsichtbare zu zeigen. Angst vor dem Zynismus, der die Utopie besiegt. Und schlie�lich: Angst davor, den Zusammenhang von Wirklichkeit und Wort zu zerst�ren. Das h�rt sich komplizierter an, als es in Wahrheit ist. Beigbeder, Jahrgang 1965, hat ein Buch �ber das Grauen geschrieben, ein beklemmendes, verst�rendes Buch. Aktuell und zeitlos, aufw�hlend und faszinierend zugleich.

Der erfolgreiche Immobilienh�ndler Carthew Yorston hat endlich einmal Zeit f�r seine S�hne Jerry und David. Ein Ausflug ist geplant, Ziel ist das "Fenster zur Welt". So sitzen die drei bereits am fr�hen Morgen im "Windows on the World", der Luxus-Cafeteria im 107. Stockwerk des World Trade Centers in New York. Ein rundum sch�ner Tag soll es werden. Doch es ist der 11. September 2001, 8.30 Uhr. Exakt sechzehn Minuten sp�ter bohrt sich eine Boeing 767 in die Nordseite des Turms. Was folgt, ist zum unausl�schlichen Bestandteil des kollektiven Ged�chtnisses geworden: Ein weiteres Selbstmordkommando zerst�rt den zweiten Turm, die Zwillingsmonumente brechen in sich zusammen, mehr als dreitausend Menschen finden den Tod. Das sind die Fakten, nackte Zahlen, sterile Abstraktionen des Leids. Doch: Was ist in den Menschen vorgegangen, die das Inferno vor Augen hatten? Es gibt nur eine M�glichkeit, es zu erfahren, sagt Beigbeder: "Man muss es erfinden."

119 Minuten dauert es vom ersten Einschlag bis zum Einsturz des zweiten Turms, jeder einzelnen widmet Beigbeder ein eigenes Kapitel, ein apokalyptisches Minutenprotokoll �ber das ganz pers�nliche Martyrium der Opfer. Carthew Yorston, der Ich-Erz�hler, versucht im Gef�hlschaos zwischen hysterischer Verzweiflung und stummer Schicksalsergebenheit seine Hoffnung zu bewahren. Rasch wird klar: es gibt keine Rettung. Es bleibt: das Warten auf den Tod. Doch Carthew will nicht warten. Er w�hlt f�r sich und seine Kinder den "vertikalen Abschied", den Sturz aus dem Fenster, den Sprung ins Nichts. Das "Surfen auf den Feuerwolken" wird zum letzten Beweis menschlicher W�rde. Und zeigt doch: Die Katastrophe schafft keine Helden, sondern nur "gehetzte Kreaturen".

Sein Roman benutze die Trag�die als "literarische Kr�cke" gesteht Beigbeder ein. Darf man das? Selbstqu�lerische Reflexionen �ber den eigenen Schreibprozess durchziehen den Roman. Beigbeder mischt sich als zweites Erz�hler-Ich immer wieder in den Gang der Dinge ein. Das kennt man aus seinen fr�heren B�chern. Beigbeder, der gelernte Werbetexter und gewiefte Medienprofi, kann nicht anders, er muss seine eigenen Befindlichkeiten ins epische Spiel bringen. Und das bedeutet bei ihm zumeist: egomanische Randbemerkungen, plakative Bonmots, tiefschwarzer Humor - als "Schutzschild gegen das Grauen".

Das Buch hat Schw�chen, keine Frage. Sprachlich bewegt es sich zuweilen auf d�nnem Eis, schreckt vor trivialen R�hrseligkeiten und metaphorischen �berhitzungen nicht zur�ck. Und trotzdem: Beigbeder, der Grenzg�nger zwischen Understatement und Gr��enwahn, hat ein wichtiges, ein ersch�tterndes, ein gro�artiges Buch �ber die Macht der Imagination geschrieben, ergreifend im eigentlichen Sinn des Wortes. Nichts Besseres l�sst sich �ber einen Roman sagen.

Holger Dauer

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten

Eine leicht gekürzte Fassung der Rezension erschien zuerst unter dem Titel "Surfen auf Feuer" in der "Allgemeinen Zeitung", Mainz (Nr. 196 vom 24. August 2004, S. 17).

Buchcover: © Ullstein Verlag, Berlin/München

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