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Rezensionen > Neumann, Lusthängen (Theaterkritik)

Hubert Neumann: Lusthängen - Szene aus der Mainzer UraufführungVier Lustgeplagte und ein Todesfall
Hubert Neumanns "Lusthängen" wurde in Mainz uraufgeführt

Das Handlungsgerüst: Zwei junge Frauen, die Freundinnen Eva und Marina, kaufen sich im Supermarkt die unentbehrlichen Utensilien für die nächste Party zusammen. Zu ihnen gesellt sich Daniel, der Metzger, eifriger und lustgeifernder Besucher der allabendlichen Feten. Alle hatten sie wahrscheinlich schon mal etwas miteinander, vielleicht aber auch nicht. Der Grabredner Beck taucht plötzlich auf, stellt unangenehme Fragen zum Tod des gemeinsamen Freundes Sebastian. Dieser wurde tot aufgefunden, an einem Strick baumelnd, eine Plastiktüte üer den Kopf gestülpt. War es Selbstmord? Ein Unfall? Oder doch vielleicht Mord? Wer war dafür verantwortlich? Immerhin: Sein letztes Kick-Erlebnis hatte er, den finalen Orgasmus, den er offensichtlich nur noch im Todeszucken erleben konnte - "Lusthängen" eben. Dann einer der Höhepunkte: die feierlich-groteske Bestattung einer Barbiepuppe. Am Anfang und Ende des Stückes: Ein sich geißelnder Transvestit, eine antik anmutende Sehergestalt in verhinderter Dressmann- und Stripperpose, kündend vom immer schon gewussten oder doch erahnten Schicksal der Menschheit. Keine der aufgeworfenen Fragen wird im Verlauf des Stücks beantwortet. Warum auch? Die heutige Welt funktioniert als Fragespiel, bei der es auf die Antworten nicht ankommt. Denn die sind sowieso austauschbar, sinnlos, nicht wirklich wichtig.

Hubert Neumanns erstes Theaterstück "Lusthängen", das am 4. April 2002 in den Mainzer Kammerspielen uraufgeführt wurde, zeigt ein tragikomisches, engmaschig gesponnenes Netz aus Schönheitswahn und Medienterror, Konsumrausch und unbändigem Erlebnishunger. Verstrickt in diese "postmoderne" Misere: vier junge Menschen auf der Suche nach dem ultimativen Erleben in ohnehin schon erlebnisschwangerer Zeit, nach dem immer Neuen, nach actionreichem Input für ein nur so als gelungen empfundenes Leben. Nur: Was noch erleben, erspüren, erfahren können in einer Zeit, in der das Erlebnis zum Normalfall geworden, zum Event verkommen ist? Das ist den Figuren nicht bewusst, wie sollte es auch? Dem unentwegten Rauschen des Mediendiskurses ausgesetzt, ist die Suche nach 'Eigentlichkeit' von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und trotzdem: So etwas wie Liebessehnsucht bricht sich immer wieder Bahn, das verzweifelte Streben nach Nähe, nach Hinwendung. Was kommt dabei heraus? Berührungen werden zu Kollisionen, Begegnungen zu Konfrontationen. Zwei Menschen stehen sich gegenüer - das heißt in diesem Fall: sie stehen sich im Weg. Das Leben als Hindernisparcours, als Parforceritt von einem orgiastischen Erleben zum anderen - ein immerwährendes trostloses Fest, Tequila getränkte Leidenschaftslosigkeit, verpuffte Obsession.

Anna Lehr (links) und Yvonne Eckseler in Hubert Neumanns Oft agieren die Figuren wie auf einem Schachbrett, auf strikt vorgegebenen Bahnen eines normativen Lebensentwurfs. Deformierte Seelen schieben sich auf dem imaginären Planquadrat der Spaßgesellschaft von Feld zu Feld, geschändet von einer medial eingetrommelten Daseinsnorm, die wie selbstverständlich hingenommen, verinnerlicht wird. Da wundert es denn auch nicht, dass den Frauen eine Brustamputation zum sehnlichsten Wunsch gerät. Warum? Weil man dann "nichts mehr fühlt" - die dauerhafte, unumkehrbare Suspension der Lust als Bedingung der Möglichkeit von - Lust, eine Körperlichkeit, die des Körpers als Lustort nicht mehr bedarf. Die Widersprüche spiegeln sich auch in der kraftvoll-opulenten Sprache Neumanns, ein munter-aufreibendes Oszillieren zwischen barockem Pathos und coolem Gegenwartsjargon der Handy- und SMS-Generation.

Oliver Vorwerk, der mit ebenso eigenwilligen wie klugen Theaterprojekten in Mainz, Würzburg, Berlin und vor allem mit seiner "Hamlet"-Inszenierung am Theater Nordhausen auf sich aufmerksam machte, hat bei der Auswahl der Schauspieler eine glückliche Hand bewiesen. Anna Lehr (Marina) und Yvonne Eckseler (Eva) verstehen es, die vibrierende Spannung zwischen entseelter Gleichgültigkeit, Erlebnisgeilheit und steriler Erotik zu halten. Die Figur der Eva, angesiedelt irgendwo zwischen Medusa der Lüste und Jungmädchen-Zicke, eine moralenthobene Glücksucherin mit gefühlvollen Anwandlungen. Eckselers Innigkeitsmomente sind dabei von durchaus robuster Natur. Frostig, gleichgültig zuweilen, doch fast immer von praller Diesseitigkeit, schreit sie ihre Ratlosigkeit in die Welt hinaus. Nein, die leisen Töne sind ihre Sache nicht, können es auch nicht sein angesichts eines Daseins, das täglich erneuerbares Glück zugleich verspricht und versagt.

Anders Anna Lehr: Oft in sich gekehrt, sucht ihre Marina nach jenen Zwischentönen des Lebens, die sie schon lange nicht mehr vernimmt, eigentlich nie vernommen hat. Ihrem Glauben an wahre Zärtlichkeit, an romantische Liebeserfüllung hat sie noch nicht völlig abgeschworen, doch er wetzt sich ab an einer zur Lebensmaxime erkorenen Belanglosigkeit. 'Wirkliche' Zuwendung spendet sie denn auch nur ihrer Barbiepuppe, die sie mit eifersüchtigem Getue umhegt, streichelt, küsst - in Plastik gepresster Liebeshunger, letztlich auch er ad acta gelegt, beerdigt wie die ürigen Hoffnungen auch.

Uli Wirtz von Mengden (liegend) und Patrick Twinem in Hubert Neumanns Uli Wirtz von Mengden (Beck), der beeindruckendste Mime des Abends, agiert mit gewollt hilflosem Charme und kalt-naivem Blick, ein verhinderter Aufklärer, ein Wahrheits-Ritter von traurigster Gestalt, der sich hineinziehen lässt in das wirre erotische Beziehungsgeflecht, dem er letztlich erliegt - sinnbildlicher Abgesang an das vielbeschworene "Projekt Aufklärung". Schließlich Daniel, der grobschlächtige Schlachter, gemimt von Patrick Twinem: Fleisch ist sein Metier, ob pfannenfertig filetiert oder in Form weiblicher Körper. Ganz Körper auch er, aufdringlich und rabiat, gierend nach stimmungsberauschter Abwechslung, eine Existenz, die sich üer Ejakulationshäufigkeit definiert.
All diesen Figuren ist eines gemeinsam: Die nackte Angst vor der Begegnung mit der - letztlich doch imaginierten - Eigentlichkeit, vor dem Augenblick, in dem das wahr werden könnte, was alle zu wünschen vorgeben
.

Vier Personen haben einen Autor gefunden: Neumanns "Lusthängen" ist ein Erstling, der aufmerken lässt und bei der Premiere begeisterte Aufnahme gefunden hat. Völlig zurecht: Und doch: Immer wieder schleichen sich auch Passagen ein, die sich einer bühnenwirksamen Realisierung hartnäckig zu widersetzen scheinen. Woran liegt das? Vielleicht am epischen Charakter des Textes. In Romanform würde das zur wohlverdienten Geltung kommen, was als Theatertext zuweilen nicht so richtig funktionieren will. Dass Oliver Vorwerk die Regie üernommen hat, ist ein Glücksfall, für die Zuschauer, für die Schauspieler und für das Stück. Vorwerk weiß genau, wo er den korrigierenden dramaturgischen Hebel ansetzen muss, wie er Stagnation in Tempo, Redundanz in Wesentlichkeit verwandelt. Und: Er setzt jene textlichen Momente gekonnt in Szene, die großartig gelungen sind, Beispiele einer sprachlichen Kraft, die an Jelinek oder Botho Strauß erinnern. Alles in allem: Neumann hat mit "Lusthängen" einen dramatischen Wurf gelandet, an dem - vielleicht in üerarbeiteter Form - auch andere Bühnen nicht ohne weiteres vorbeikommen werden. Übrigens arbeitet Hubert Neumann seit einiger Zeit an seinem historischen Roman "Der Wolkenschieber", für deren erste Entwürfe er im letzten Jahr den Martha-Saalfeld-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz erhielt. Neumann ist zweifellos ein hervorragender Epiker und - ein nach Form und Sprache suchender Dramatiker, der sich - üer kurz oder lang - einschreiben wird ins Bewusstsein der Theaterbesucher.

"Lusthängen" von Hubert Neumann - zu sehen noch am 7. und 8. Juni sowie am 1., 3., 19., 20. und 21. November 2002, jeweils um 20.00 Uhr in den "Mainzer Kammerspielen" im Fort Malakoff Park (Rheinstraße 4 in 55116 Mainz). Kartenbestellungen unter Tel.: 06131 / 22 50 02. E-Mail-Kontakt: [email protected]

Hinweis: Das Textheft zu Hubert Neumanns "Lusthängen" ist mittlerweile (Frühjahr 2004) unter der Nummer E 539 im Deutschen Theaterverlag Weinheim erschienen. Dort sind auch die Aufführungsrechte zu erwerben. Die Adresse:
Postfach 20 02 63
69459 Weinheim
Tel.: 06201 / 87 90 70
Fax: 06201 / 50 70 82
E-Mail: [email protected]
Internet: www.dtver.de

Holger Dauer

© Autor / TourLiteratur
Alle Rechte vorbehalten
Fotos: Szenen aus der Uraufführung, Mainzer Kammerspiele. © Hubert Neumann, Mainz

Links:

Homepage Mainzer Kammerspiele

Die Pressemitteilung des rheinland-pfälzischen Ministeriums für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur zur Verleihung des Martha-Saalfeld-Förderpreises 2001, u.a. an Hubert Neumann

Eine Leseprobe aus Neumanns Romanprojekt "Der Wolkenschieber" bei "Romansuche.de"

Hubert Neumanns Prosatext "Totenwache" auf den Seiten des BVJA, des Bundesverbandes junger Autoren und Autorinnen e.V.

Verlagsinfos zu Hubert Neumanns Studie "Sozialdisziplinierung in der Reichsstadt Speyer im 16. Jahrhundert" (St. Augustin 1997) beim Gardez! Verlag

Homepage der Schauspielerin Yvonne Eckseler

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