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Rezensionen > Shalev, Zeruya: Späte Familie

Ausgrabungsstätte Seele
Über "Späte Familie" von Zeruya Shalev

Zeruya Shalev: Späte Familie. Roman.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Berlin: Berlin Verlag 2005
ISBN 3-8270-0474-8.
582 Seiten. EURO 22,00

Vor mehr als dreieinhalbtausend Jahren vernichtete ein gewaltiger Vulkanausbruch eine Insel in der Ägäis, von der heute nur noch die Kraterränder aus dem Mittelmeer ragen: Santorin. Etliche Legenden machten die Naturkatastrophe verantwortlich, sei es für den Untergang Atlantis', das Verschwinden der minoischen Kultur oder gar den Exodus, der Moses und seinem Volk nur gelang, weil Ägypten von den Folgen der Eruption, den Plagen, gebeutelt war.

In der Antike hieß diese Insel Thera, und das ist der Titel der hebräischen Originalausgabe von Shalevs drittem Roman. Der Berlin Verlag fürchtete offenbar, bei Beibehaltung dieses Titels Impulskäufer zu verlieren, denen der Name der Insel nichts sagt und die so beim ersten Blick auf das Buch keinen Hinweis auf seinen Inhalt bekommen. Der deutsche Titel "Späte Familie" ist freilich aussagekräftiger, drängt jedoch ein Leitmotiv des Romans in den undankbaren Hintergrund, aus dem es auch in den ersten Besprechungen nicht wieder herausfindet.

Denn die Protagonistin Ella ist Archäologin; sie versucht, die Geschichte Theras zu rekonstruieren, und sie verinnerlicht ihr Fach so sehr, dass sie auch die Gegenwart allenthalben mit dem archäologischen Blick betrachtet. Als beispielsweise der Wachmann das Tor vor der Schule ihres Sohnes verlässt, um seine Runde zu machen, hängt er ein Schild auf, auf dem die letzten Buchstaben unleserlich sind: Bitte um Ged. Unweigerlich stellt sich Ella vor, wie in ferner Zukunft Forscher das Schild aus den Trümmern ziehen und die Botschaft zu entschlüsseln suchen, mögliche Interpretationen in Erwägung ziehen und wieder verwerfen. Die Geschichten hinter den Scherben und Spuren faszinieren und bewegen sie, und allen voran ihr Ehemann, ebenfalls Archäologe, wirft ihr vor, sich weniger für Wissenschaft als für Märchen zu interessieren.

Das Leben mit diesem Mann, das wie ein ersehntes Märchen begonnen hatte und zu einem zermürbenden Alltag wurde, ist ihr unerträglich. Daher beschließt sie, sich von ihm zu trennen, auch wenn ihre Eltern und ihre Freunde ihr vorhalten, ihre eigenen Bedürfnisse in egoistischer Weise über die ihres sechsjährigen Sohnes zu stellen. Die Schwierigkeiten, die sich für alle Beteiligten aus der Trennung ergeben, führen ihr bald die destruktive Kraft ihrer Entscheidung vor Augen: Ihr Gefühlsausbruch zerstörte ihre Familie wie der Vulkan die Gesellschaft auf Thera. Und wie die Archäologin historische Abläufe nachvollziehen will, indem sie Schicht um Schicht freilegt, versucht Ella in einer von Selbstzweifeln begleiteten Analyse ihr eigenes Erwachsenwerden und das Scheitern ihrer Ehe zu verstehen.

Die Analogie geht noch weiter, und die Wechselwirkung von Ellas Dasein als Wissenschaftlerin und als Frau und Mutter wird immer offenbarer. Denn in demselben Maße, wie sich Ellas beruflich bedingter, rückwärts gewandter Blick auf ihre private Introspektion überträgt, beeinflusst ihre persönliche, nie gestillte Sehnsucht nach einem märchenhaften Neuanfang und Selbstentfaltung ihre archäologischen Interpretationen. Sie befasst sich mit jener, von ihren Kollegen als abwegig abgetanen Theorie, der Vulkanausbruch auf Thera stehe in Zusammenhang mit dem Auszug der Hebräer aus Ägypten, und somit mit der Begründung der Heimat Israel. Ebenso hofft Ella, dass ihrem Ausbruch die Befreiung aus den Fesseln der ersten Ehe und schließlich der Aufbau eines neuen Zuhause und einer neuen Familie folgt.

Nüchtern betrachtet sind beide Geschichten mitnichten märchenhaft: Zu viele Rückschläge, zu viele Enttäuschungen, zu viele Grausamkeiten begleiten sie. Der Leser wünscht sich vielleicht hin und wieder, Ella könnte ihre Gefühlsausbrüche, die auch die neue Liebe bedrohen, sich selbst zuliebe bremsen. Doch es drängt aus Ella hervor, wie die Sätze mit Macht aus Zeruya Shalev herausströmen, ohne sich durch Punkte unterbrechen zu lassen. Schreiben sei für sie wie Atmen, hat die Autorin in einem Gespräch mit Bettina Spoerri von der Züricher WOZ (Ausgabe vom 8. September 2005; www.woz.ch/gelesen/buch_598.html) gesagt, und diese existentielle Funktion der Literatur schlägt sich nicht nur in der Syntax, sondern auch in zwischen Lyrik und Rohheit oszillierender Bildhaftigkeit nieder, die von Mirjam Pressler in gewohnt souveräner Weise übertragen wurde.

Das mag auch damit zusammenhängen, dass Zeruya Shalev genau weiß, worüber sie schreibt: Die ursprüngliche Bibelwissenschaftlerin, Jahrgang 1959, hat selbst mehrere Ehen durchlebt und zwei Kinder von verschiedenen Vätern. Wie ihre Protagonistin lebt sie in Jerusalem, wo die Bedrohung durch die politische Lage in Sicherheitspersonal vor öffentlichen Gebäuden oder Gaststätten Gestalt annimmt, wie in jenem Wachmann vor der Schule, die Ellas Sohn besucht. Shalev wäre selbst beinahe Opfer eines Selbstmordattentates geworden; gut möglich, dass einer ihrer nächsten Romane diese Form der Katastrophe zum Thema hat.

In dem vorliegenden Roman bleibt lange offen, ob es sich bei dem Ausbruch - dem einen wie dem anderen - um eine Katastrophe oder eine Krise handelt. Über letztere sagte Max Frisch bekanntlich, sie sei ein produktiver Zustand, man müsse ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen. Auch sein Protagonist Gantenbein steht irgendwann in seiner Wohnung, die die Partnerin verlassen hat, "wie in Pompeji [...]: Alles ist noch da, nur das Leben nicht mehr." Doch die Geschichte kann fortwährend neues Leben hervorbringen: neue Gesellschaften und neue, wenn auch späte Familien.

Friderike Beyer

© TourLiteratur / Autorin
Alle Rechte vorbehalten

© Buchcover: Berlin Verlag, Berlin

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