|  Erkennen 
        - Urteilen - Handeln Anfänge der Theaterpädagogik in Bertolt Brechts Lehrstück 
        "Die Maßnahme"
 Von 
        Benedikt Descourvières
 Die Wahrnehmung 
        des Zuschauers zu verändern, ihn mit dem zu konfrontieren, was er bisher 
        nicht gesehen und erkannt hat und ihn permanent mit neuen Perspektiven 
        auf einen bestimmten Gegenstand zu aktiver Denkarbeit zu motivieren, war 
        das große Ziel der Brechtschen Theaterpraxis. Sein Ziel, radikale Erkenntnisprozesse 
        durch das Theater zu initiieren, führte ihn zu seinem Konzept des Epischen 
        Theaters, das er dem traditionellen Handlungs- und Figurendrama, das 
        auf der Identifikation des Publikums mit den Figuren beruht, entgegensetzte. 
        In scharfer Abgrenzung zu den Dramenkonzeptionen Aristoteles', Lessings 
        und Schillers bricht Brecht die organische Ganzheit des klassischen Dramas 
        rigoros auf, indem die dramatische Spielsituationen und Figuren systematisch 
        verfremdet und desillusioniert werden. Die Schauspieler wechseln ihre 
        Rollen, treten aus ihnen heraus und zeigen auf sie: Sie übernehmen nicht 
        die Perspektive einer dramaturgisch definierten Figur, sondern diejenige 
        eines kritischen Beobachters, der die jeweiligen Handlungen und Figuren 
        vom progressivst möglichen historischen Standpunkt aus kommentiert. Das Publikum 
        soll sich nicht durch Furcht wie bei Aristoteles oder Mitleid 
        wie bei Lessing mit dem Bühnengeschehen identifizieren, sondern durch 
        die Zeige- und Verfremdungstechniken Wissensbegierde und Hilfsbereitschaft 
        entwickeln. Das Publikum sei nicht über illusionistische Affekte aus seiner 
        empirischen Welt in die der Kunst zu entführen, zu verzaubern, sondern 
        durch das Epische Theater in seine reale Welt einzuführen. Es soll im 
        und durch das Theater zu eigenständigen Analysen und Urteilen provoziert 
        werden, um die Bedingungen seiner Existenz kennenlernen, beurteilen und 
        entsprechende Konsequenzen für konkretes Handeln ziehen zu können. Nicht 
        passive Rezeption und ästhetischen Genuss, sondern praktische und anschauliche 
        Erkenntnisproduktion verband Brecht mit der Theaterarbeit des Publikums. 
        So forderte er, die gesellschaftliche Verhältnisse in ihren strukturellen 
        Zusammenhängen realistisch darzustellen, statt sie nur minutiös zu beschreiben, 
        wie er es dem Naturalismus, dem er die analytische Kraft absprach, vorwarf. Äußerst konsequent 
        praktizierte Brecht seine epische Dramatik der kritisch-analytischen Distanzierung 
        in seinen Lehrstücken, die der Rezeption bis heute allerdings meist als 
        eindimensionale, plumpe, marxistische Propaganda- und Thesenstücke gelten, 
        die bei weitem nicht die poetische Reife späterer Stücke erreichten. Die 
        Lehrstücke behandeln modellhaft zentrale Probleme progressiven politischen 
        Handelns. Beispiele sind die Frage nach der Gewaltanwendung, der Disziplin 
        oder aber dem Abwägen zwischen langfristigen und kurzfristigen Interessen. 
          Wurden 
        die Lehrstücke in der bürgerlichen Kritik als Parteiliteratur angefeindet, 
        so lösten sie auch in der marxistischen Rezeption heftige Debatten um 
        die richtige ideologische Position aus. Bis heute kommen die politischen, 
        ästhetischen und theaterpädagogischen Innovationen, die Brecht in seinen 
        Lehrstücken realisiert, zu kurz. Die Rezeption der Lehrstücke wird dadurch 
        erschwert, dass Brecht nie eine zusammenhängende, stringente Lehrstücktheorie 
        verfasste. Insofern kommt dem philologischen Bemühen Rainer Steinwegs 
        große Bedeutung zu, die vereinzelten, fragmentarisch archivierten theoretischen 
        Äußerungen Brechts zu einem Ansatz zusammengeführt zu haben. Alle hier 
        wiedergegebenen Äußerungen Brechts zum Lehrstück sind über Steinwegs richtungsweisende 
        Arbeiten zitiert.
 Brecht entdeckte 
        1926 die Kapitalismuskritik von Marx und Engels als geeignetes Instrumentarium, 
        um komplexe ökonomische Prozesse zu analysieren. Mit ihr entwickelte er 
        sich vom kritischen Beschreiben der bürgerlichen Gesellschaft - "Mann 
        ist Mann" (1924-26), "Dickicht der Städte" (1922), "Trommeln 
        der Nacht" (1919) - zu einem produktiven Entwickler neuer Denk- und 
        Handlungsformen im Theater. In seinem Lehrstückkonzept sah er ein probates 
        kommunikatives Gegenmodell zur Betäubung und wachsenden Desinformation 
        durch die Massenmedien: Das Publikum sollte nicht mit fertigen Entwürfen 
        bedient und ästhetisch genussvoll unterhalten werden, sondern aktiv Theater 
        gestalten, sich durch das Theater Perspektiven, Meinungen, Haltungen erarbeiten, 
        um eine Situation möglichst umfassend beurteilen zu können. Das Lehrstück 
        setzt ein Publikum voraus, das spielerisch eine Situation erkennt, sie 
        in möglichst vielen Varianten durchspielt und durch diese selbst geleistete 
        theatrale Veranschaulichung die folgerichtigen Schlüsse für das bestmögliche 
        politische und soziale Handeln in einer bestimmten Situation ziehen kann:  
        "Zwischen 
          der wahren Philosophie und der wahren Politik ist kein Unterschied. 
          Auf diese Erkenntnis folgt der Vorschlag des Denkenden, die jungen Leute 
          durch Theaterspielen zu erziehen."  Mit seiner 
        Überzeugung, durch Theaterspielen Lern- und Denkprozesse befördern zu 
        können, begründete Brecht zentrale Ansätze der modernen Theaterpädagogik, 
        die bis heute an Aktualität nichts verloren haben und insbesondere in 
        Rollenspielkonzepten fortgeführt werden, die ihren festen Platz ebenso 
        in Management- und interkulturellen Vorbereitungskursen wie auch in der 
        christlichen Katechese oder in verschiedenen therapeutischen Verfahren 
        haben.  Die Lehrstücke 
        verfolgen die Strategie, die Trennung zwischen Bühne und Publikum aufzuheben. 
        Sie sollen nicht für ein Publikum, sondern durch es gespielt werden und 
        kennen "nur mehr Spieler, die zugleich Studierende" sind, indem sie 
        die von Brecht literarisch verfassten Situationen erörtern, Ursachen und 
        Konsequenzen analysieren und die Ergebnisse ihrer Betrachtung spielerisch 
        umsetzen:   
        "Prinzipiell 
          ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich 
          verwertet werden. Es liegt dem Lehrstück die Erwartung zugrunde, daß 
          der Spielende durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme 
          bestimmter Haltungen Wiedergabe bestimmter Reden und so weiter gesellschaftlich 
          beeinflußt werden kann."  Für Walter 
        Benjamin geraten die Lehrstücke zu einer "Versuchsanordnung zur Erforschung 
        menschlichen Verhaltens". Im Spiel können sich die Spieler spezifischer 
        Haltungen und Perspektiven praktisch und konkret bewusst werden. Im Vordergrund 
        steht die Selbst-Belehrung der Spielenden, nicht das ästhetische Vergnügen: 
        "Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß 
        es gesehen wird."   Brechts 
        wohl umstrittendstes, 1930 uraufgeführtes Lehrstück, "Die Maßnahme", 
        in dem er die Problematik politischen Handelns unter extrem harten Bedingungen 
        - das Denken "vor den Gewehrläufen" (659) - bis zur radikalen Entscheidung 
        des notwendigen Selbstmordes eines politischen Mitstreiters zum Schutz 
        der Gruppe durchspielt, thematisiert gleich mehrere schwierige taktische 
        und ethische Fragen der politischen Auseinandersetzung angesichts erschreckender 
        gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse. Vier kommunistische Agitatoren 
        stehen vor einem Parteigericht, das durch den Chor repräsentiert wird. 
        Der Chor verlangt von den Vieren Aufklärung darüber, warum sie einen jungen 
        Genossen erschießen mussten. "Der junge Genosse", ein sympathischer, 
        engagierter, aber auch ungestümer Revolutionär, hält die Spannung zwischen 
        langfristigem politischem Kalkül und direktem Eingreifen nicht aus. Er 
        gibt sich angesichts der bitteren Armut und Ausbeutung immer wieder dem 
        spontanen Mitleid hin und gefährdet so die politische Agitation zur Aufklärung 
        und Befreiung der ausgebeuteten Menschen. Als er seine Genossen durch 
        eine weitere Unbedachtheit in Lebensgefahr bringt, erzielen sie und er 
        das Einverständnis darüber, dass er sich umbringen muss, um die anderen 
        zu schützen. Die Begründung und Rechtfertigung ihrer Entscheidung präsentieren 
        die Agitatoren im Rollenspiel, um zu zeigen, wie falsch und gefährlich 
        sich der jungen Genosse verhalten hat.
 Die bürgerliche 
        Kritik diffamierte "Die Maßnahme" als "Vorwegnahme der Moskauer 
        Prozesse" (Ruth Fischer) und als "Denkspiel von entmenschter Logik" 
        (Hans E. Holthusen); auch marxistische Kritiker warfen dem Stück vor, 
        undialektisch, zu idealistisch, ja gar eine "Ver-Nichtsung des Individuellen 
        zugunsten eines abstrakten Kollektivs" (Ernst Schumacher) zu sein. Ungeachtet 
        der harschen Kritik, die die kunstvolle Konstruktion des Stückes weitgehend 
        ignoriert, lohnt "Die Maßnahme" eine seriöse Beschäftigung, die nicht 
        zuletzt das theaterpädagogische Potenzial dieser Theaterform würdigt. 
         "Die 
        Maßnahme" repräsentiert das Geschehen nicht illusionistisch, sondern spielt 
        es durch die vier Agitatoren und den Kontrollchor retrospektiv nach. Diese 
        doppelte Spielsituation verstärkt das Prinzip der permanenten Selbstkritik 
        und -vergewisserung: Was sprach für diese Maßnahme? Welche anderen Möglichkeiten 
        gab es? Wie wurde das Risiko eingeschätzt? Gleich zu Beginn konstituiert 
        der Kontrollchor die Lernspielsituation mit der folgenden Aufforderung 
        an die Agitatoren:   
        "Tretet 
          vor [...] Stellt dar, wie es geschah und warum, und ihre werdet unser 
          Urteil hören." (633)  Das Spiel 
        im Spiel beginnt, die Agitatoren spielen in den folgenden Szenen die verschiedenen 
        Situationen und Entscheidungen mit wechselnden Rollen nach - immer wieder 
        unterbrochen und kommentiert von Fragen und Liedern des Kontrollchores. 
          Durch 
        das eigene Spielen macht das Lehrstück die kritische und produktive Auseinandersetzung 
        der Darsteller mit den gesellschaftlichen Verhältnissen möglich: Die Schauspieler 
        und Schauspielerinnen befassen sich mit der bewussten Beobachtung und 
        Analyse der in einer spezifischen Situation möglichen Verhaltens- und 
        Denkweisen; in dieser Anstrengung liegt die Chance, an der Entwicklung 
        einer eigenen kritischen Haltung zu arbeiten. Wie 
        alle Lehrstücke Brechts zeichnet sich auch "Die Maßnahme" durch kurze 
        übersichtliche Sätze und Szenen aus, die sich leicht einprägen, aber auch 
        ergänzen und aktualisieren lassen. Die Szenen können so wie autonome Textmodule 
        einzeln analysiert und in ihrer Reihenfolge verändert werden. Diese Sparsamkeit 
        der Sprache, der Darstellungsmittel und der Regie- und Bühnenanweisungen 
        verfolgt zwei Ziele: Erstens eröffnet sie dem 'Lehr-Spiel' die Möglichkeit, 
        das Stück und seine inhaltlichen Voraussetzungen selbst kreativ zu entwickeln 
        und zu aktualisieren:
  
        "Die 
          Form des Lehrstücks ist streng, jedoch nur, damit Teile eigener Erfindung 
          und aktueller Art desto leichter eingefügt werden können. In 'Horatier 
          und Kuratier' etwa kann vor jeder Schlacht ein freies Rededuell der 
          Feldherrn stattfinden, in der 'Maßnahme' können ganze Szenen frei eingefügt 
          werden und so weiter."  Zweitens 
        nimmt sie den Akteuren die Scheu davor, aktiv zu werden und sich als Laien 
        produktiv in das Bühnengeschehen einzubringen. Professionelle schauspielerische 
        Begabung, präzise Textkenntnis, Requisiten und Charakterdarstellungen 
        treten hinter dem heuristischen Ziel zurück, Erkenntnis durch aktives 
        Theaterspiel zu befördern:   
        "Ästhetische 
          Maßstäbe für die Gestaltung von Personen, die für die Schaustück gelten, 
          sind beim Lehrstück außer Funktion gesetzt. Besonders eigenzügige, einmalige 
          Charaktere fallen aus, es sei denn, die Einzügigkeit und Einmaligkeit 
          wäre das Lehrproblem. [...] Über den Wert eines Satzes oder einer Geste 
          oder einer Handlung entscheidet also nicht die Schönheit sondern: ob 
          der Staat Nutzen davon hat, wenn die Spielenden den Satz sprechen, die 
          Geste ausführen und sich in die Handlung begeben."  Das Lehrstück 
        wird zum Lernstück. Von entscheidender Bedeutung ist das Erspielen unterschiedlicher 
        Einstellungen und Interpretationen durch Akteure, die zugleich Leser, 
        Darsteller und Interpreten sind. Dabei sollen die Spieler ständig die 
        Rollen und damit die Perspektiven auf die Situation wechseln:   
        "Unter 
          dieser Bedingung wird jeder von ihnen sich den Übungen der Diskussion 
          unterziehen können und schließlich die Kenntnis - die praktische Kenntnis 
          - von dem bekommen, was Dialektik ist [... Der Perspektivenwechsel zielt 
          auf] Geschmeidigkeitsübungen, die für jene Art Geistes-Athleten bestimmt 
          sind, wie es gute Dialektiker sein müssen."   Die 
        von Brecht gezielt geforderte und dramaturgisch bewusst angelegte Polyperspektivität, 
        das ständige In-Frage-Stellen einer Position oder eines Urteils, das permanente 
        Suchen nach neuen, besseren Wegen führen den 'ewigen' Vorwurf, das Lehrstück 
        ziele auf das Einhämmern von Lehrsätzen und Patentrezepten, ad absurdum 
        und weisen das Lehrstück als eine exzellente pädagogische und politische 
        Übung aus, die immer wieder versucht, Verkanntes und Unbekanntes, das 
        möglich ist, aber nicht gesehen wird, zu manifestieren. Im Idealfall leistest 
        es das "In-Bewegung-Setzen des Unbewegten", wie es der französische 
        Philosoph Louis Althusser in seien Schriften zum Theater bezeichnete. 
        Mit der Suche nach neuen Perspektiven korrespondiert die Warnung vor übereilten 
        Urteilen aus der Entfernung, die die konkrete Lage vor Ort nicht berücksichtigen. 
        Die Agitatoren fordern:
  
        "Wartet 
          ab! Es ist leicht, das Richtige zu wissen
 Fern vom Schuß
 Wenn man Monate Zeit hat
 Aber wir
 Hatten fünf Minuten Zeit und
 Dachten nach vor den Gewehrläufen." (659)
 Ein gerechtes 
        und tragfähiges Urteil, das für alle nachvollziehbar ist und mit dem die 
        Beteiligten - auch der junge Genosse - ihr Einverständnis erklären 
        können, muss alle Faktoren politischen Handelns bedenken. Der Begriff 
        des Einverständnisses bedeutet bei Brecht nicht naive Bejahung oder Duldung 
        einer Entscheidung; er setzt eine Einsicht voraus, die auf der genauen 
        Analyse und Beurteilung des Gegenstandes basiert.  Die Praxis 
        bei der Arbeit mit verschiedenen Gruppen von Laienschauspielern hat bisher 
        gezeigt, dass diese 'andere' Form des Umgangs mit Theater tatsächlich 
        einer Geistesübung gleichkommt. Dies zeigt sich beispielsweise in der 
        szenischen Interpretation der Szenen 4 der "Maßnahme", in der die 
        vier Agitatoren zeigen, wie sich der junge Genosse beim Verteilen von 
        Flugblättern in einen Streit mit einem Polizisten verwickeln lässt und 
        durch seine emotionale Reaktion die gesamte Arbeit und die Sicherheit 
        der Gruppe gefährdet.   In 
        Szene 4 wird häufig lebendig darüber diskutiert, welches die aufschlussreichste 
        Person sei. Einerseits wird in der Regel der "Erste Textilarbeiter" 
        als besonders interessant hervorgehoben, da er alles tue, um die weitere 
        politische Arbeit trotz der Repression zu ermöglichen. Bis zu seiner Aufforderung 
        an den jungen Genossen wegzulaufen, damit dieser an anderer Stelle unerkannt 
        die politische Aufklärungsarbeit fortsetzen könne, sei die Aktion gelungen, 
        heißt es: Schließlich seien die Flugblätter in Umlauf gebracht worden, 
        die Obrigkeit konnte durch geschicktes Lavieren hingehalten werden. Das 
        unbeherrschte Verhalten des jungen Genossen habe jedoch die Situation 
        eskalieren lassen, alle Beteiligten in Gefahr gebracht und das politische 
        Ziel in die Ferne rücken lassen: "Er hatte ein kleines Unrecht verhindert, 
        aber das große Unrecht, der Streikbruch, ging weiter." (DM, 648)
 Trotz seines 
        agitatorischen 'Murxismus' wird aber auch der junge Genosse gelegentlich 
        für die bedeutendste Figur der Szene gehalten, da er zwar den Kopf verliere, 
        aber doch den Mut habe, gegen strategische Erwägungen den Finger direkt 
        in die Wunde des Unrechts zu legen. Schließlich sei gerade der Verweis 
        auf taktische Überlegungen nur allzu häufig der Vorwand für politische 
        Feigheit.  Andere halten 
        im Sinne der Brecht'schen Illusionslosigkeit den Polizisten für die aufschlussreichste 
        Figur, da er im Gegensatz zum naiven jungen Genossen sehr 'wissend' ist. 
          
        "Ich 
          bin ein Polizist und bekomme von den Herrschenden mein Brot dafür, daß 
          ich die Unzufriedenheit bekämpfe." (645)  Der junge 
        Genosse glaube, so führen viele an, mit der herrschenden Klasse über Verbrechen 
        diskutieren zu können, während der Polizist die Situation pragmatisch 
        durchschaue und analysiere und seinen persönlichen Nutzen aus den bestehenden 
        Machtverhältnissen ziehe. Trotz seines zweckrationalen Verhaltens braucht 
        aber auch der Polizist mit einer ideologisch plausiblen Rechtfertigung 
        seines Handelns, da er behauptet, die Unzufriedenheit zu bekämpfen, letztlich 
        aber nur den Aufstand und die Menschen bekämpft.  Zusammenfassend 
        bleibt festzuhalten, dass die Erkenntnis nicht fortlaufend mit einer Figur 
        verbunden ist, sondern sich im Zusammenspiel mehrerer Figuren einstellt, 
        das heißt das Kollektiv der Figurenkonstellation bleibt Quelle und Maßstab 
        der Erkenntnis. Bei aller Radikalität der "Maßnahme" werden die textimmanenten 
        Widersprüche, die Brecht keineswegs auf dem Niveau eines Parteiprogramms 
        nivelliert, sondern bewusst evoziert, gerne übersehen. So kommt der Chor 
        beispielsweise keineswegs zu dem Schluss, die von den vier Agitatoren 
        getroffene Maßnahme als einzige mögliche und sinnvolle Lösung der gefährlichen 
        Situation abzusegnen. Im Gegenteil: Er benennt ausdrücklich mehrere Verhaltensweisen 
        als notwendige Voraussetzung für die aufrichtige, zielführende politische 
        Praxis. Einerseits 
        betont er die Bedeutung der solidarischen Gemeinschaftsaktion als Voraussetzung 
        für die politische Arbeit:
  
        "Gehe 
          nicht ohne uns den richtigen Weg Ohne uns ist er
 Der falscheste.
 Trenne dich nicht von uns!
 Wir können irren und du kannst recht haben, also
 Trenne dich nicht von uns!" (656)
 Für die Veränderung 
        ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse bedarf es aber nicht nur der 
        Beachtung strategischer Prinzipien, sondern gerade des Zusammenspiels 
        zwischen Dynamik und Reflexion, wie sie in der Schluss-Sequenz vom Kontrollchor 
        angemahnt wird:   
        "Euer 
          Bericht zeigt uns, wieviel Nötig ist, die Welt zu verändern:
 Zorn und Zähigkeit, Wissen und Empörung
 Schnelles Eingreifen, tiefes Bedenken
 Kaltes Dulden, endloses Beharren
 Begreifen des Einzelnen und Begreifen des Ganzen:
 Nur belehrt von der Wirklichkeit, können wir
 Die Wirklichkeit ändern." (663)
  Diese 
        Sequenz torpediert in keiner Weise jedwede Menschlichkeit, sie fordert 
        sie geradezu ein, indem sie den Finger in die politische Gesinnungswunde 
        legt: Nicht eine einmal definierte Entscheidung wird zum Kriterium für 
        richtiges Handeln, sondern ausschließlich die Methode permanenter Kritik 
        und Analyse der bestehenden Verhältnisse, was die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel 
        voraussetzt. Der dialektisch-erzieherische Impetus der "Maßnahme" 
        konnte in der Praxis nicht entfaltet werden. Der Uraufführung 1930 in 
        Deutschland durch Arbeiterchöre und Laiendarsteller folgten acht weitere 
        Aufführungen mit überarbeiteten Textfassungen, deren letzte im Januar 
        1933 noch während der Premiere von einem nationalsozialistischen Polizeipräsidenten 
        verboten wurde. Danach gaben Brecht und Hanns Eisler, der die "Maßnahme" 
        musikalisch bearbeitet hatte, nie wieder ihre Einwilligung zu einer Aufführung. 
        Auf die Anfrage des Kammertheaters Uppsala 1956 antwortete Brecht:
 
        "Die 
          Massnahme ist nicht für Zuschauer geschrieben worden, sondern für die 
          Belehrung der Aufführenden. Aufführungen vor Publikum rufen erfahrungsgemäß 
          nichts als moralische Affekte für gewöhnlich minderer Art beim Publikum 
          hervor. Ich gebe daher das Stück seit langem nicht für Aufführungen 
          frei."  Brechts Aufführungsverbot 
        provozierte seitens der Kritiker die Unterstellung, der Autor habe die 
        Minderwertigkeit der Maßnahme im Vergleich zu seinen späteren reiferen 
        Stücken eingesehen und jede weitere Rezeption einschränken wollen. Im 
        Horizont der oben skizzierten Lehrstückkonzeption schimmert im Aufführungsverbot 
        Brechts dialektische Süffisanz hervor: Sein Verdikt unterstützt demnach 
        die Forderung, das Lehrstück "Die Maßnahme" nicht vor Publikum als 
        sinnliche Abendunterhaltung zu spielen, sondern es im Spiel durch das 
        Publikum wirken zu lassen.  Die Maßnahme 
        - so Brecht selbst in seiner oben formulierten Begründung - sei für die 
        Belehrung der Aufführenden geschrieben worden. Verboten wäre demnach die 
        Aufführung vor und für das Publikum, nicht aber durch das Publikum. Brecht 
        nannte in einem Gespräch mit Manfred Wekwerth die "Maßnahme" noch 
        kurz vor seinem Tod als Beispiel für ein Stück, dessen Form für die Zukunft 
        des Theaters entscheidende Bedeutung habe - keine Spur einer Distanzierung 
        des Autors von seinem umstrittenen Lehrstück.  Literatur: 
        Knopf, Jan (Hrsg.): Brecht Handbuch Bd. 1: Stücke. Stuttgart/Weimar 2001, 
        S. 253-266 und zu den Lehrstücken allgemein bes. S. 28-38.
 Krabiel, Klaus-Dieter: Brechts Lehrstücke. Entstehung und Entwicklung 
        eines Spieltyps. Stuttgart/Weimar 1993.
 Rasch, William: Theories of the Partisan. Die Maßnahme and the Politics 
        of Revolution. In: Brecht Yearbook 24 (1999), S. 331-343.
 Steinweg, Rainer: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen 
        Erziehung. Kiel 1969.
 Steinweg, Rainer: Bertolt Brecht. Die Maßnahme. Kommentierte kritische 
        Ausgabe. Frankfurt a.M. 1972.
 Steinweg, Rainer: Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und 
        die theaterpädagogische Praxis. Frankfurt a.M. 1995.
 Benedikt 
        Descourvières
 © TourLiteratur 
        / AutorAlle Rechte vorbehalten
 Benedikt 
        Descourvières, Jahrgang 1968, Dr. phil., ist u.a. Verfasser des 
        Buches"Utopie des Lesens. Eine Theorie kritischen Lesens auf der Grundlage 
        der Ideologietheorie Louis Althussers. Dargestellt an Texten Georg Büchners, 
        Theodor Fontanes, Ödön von Horváths und Heiner Müllers."
 St. Augustin: Gardez! Verlag 1999. (= GiG. Germanistik im Gardez! Bd. 
        6.)
 Mehr zu Benedikt 
        Descourvières erfahren Sie hier. Buchcover 
        (von oben nach unten):1) Brecht, Bertolt: Die Maßnahme. Zwei Fassungen. Anmerkungen. Frankfurt/Main: 
        Edition Suhrkamp 2000.
 2) [Brecht, Bertolt]: beim Photographen. München: Verlag G. Kehayoff 
        1997.
 3) Völker, Klaus: Brecht-Chronik. Daten zu Leben und Werk. München: 
        dtv 1997.
 4) Häntzschel, Hiltrud: Brechts Frauen. Reinbek: Rowohlt Verlag 2002.
 5) Lahann, Birgit: Auf Bertolt Brechts Spuren. Eine Bildreise. Hamburg: 
        Verlag Ellert & Richter 1999.
 6) Kesting, Marianne: Bertolt Brecht. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 
        Reinbek: Rowohlt Verlag (rororo bildmonographien. 37.) 1975.
 7) Hayman, Ronald: Bertolt Brecht. Der unbequeme Klassiker. München: 
        Heyne Verlag 1998.
 8) Brecht, Bertolt: Frühe Stücke. Baal/Trommeln in der Nacht/Im 
        Dickicht der Städte. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag (Taschenbuch).
  Weiterführende 
        Links zu Bertolt Brecht 
  Eine 
        kleine Sekundärliteraturliste zu Bertolt Brecht
 Lesen Sie 
        auch die Beiträge von Benedikt Descourvières:
  "Tierlaute 
        Wer wollte das aufschreiben". Tatort Geschichte in Heiner Müllers 
        "Mommsens Block" 
  Träume, 
        Hexen und Gelächter. Widerstand der Phantasie in Irmtraud Morgners 
        Romanen |